Der Süden Äthiopiens

Ein Völkermuseum
Südäthiopien beeindruckt neben seiner faszinierenden Landschaft mit einer Vielzahl an Nomadenstämmen, die sich ihre ursprüngliche Lebensform bewahrt haben. Jeder dieser Stämme verfügt über eine eigene Sprache und Kultur.

Südlich von Arba Minch wird es immer wärmer und das Thermometer klettert an manchen Stellen nahe an die 40 Grad. Der Süden Äthiopiens ist kaum erschlossen. Die meisten kulturellen Sehenswürdigkeiten des Landes wie zum Beispiel die Felsenkirchen von Lalibela liegen im Norden.

Wir wollen aber auch den Süden des Landes erkunden und fahren in Richtung Südwesten bis an die Grenze zu Kenia und Sudan. Hinter Arba Minch gibt es kaum mehr asphaltierte Straßen, sondern nur mehr Pisten und unsere Fahrer müssen sich manchmal den Weg zwischen Felsbrocken und ausgetrockneten Flussläufen suchen. Unser Ziel ist das Omogebiet, denn der Omo-Fluss bildet die Lebensader vieler Stämme. Der

Weg dorthin vermittelt nicht nur faszinierende Landschaftsimpressionen, sondern gibt uns Einblick in die Lebensweise von ursprünglichen Stämmen, die man in einer solchen Vielfalt nur selten zu Gesicht bekommt. Zu Recht bezeichnete der italienische Äthiopist Carlo Conti Rossini dieses Land als ein „museo di populi“ – ein „Völkermuseum“.

So verschieden die Stämme sind, so unterschiedlich sind auch ihre Lebensformen, ihre Traditionen und Riten sowie ihre Schönheitsmerkmale.

Wasser – eine Kostbarkeit

Kinder winken am Straßenrand und öfter schallt uns ein Ruf entgegen, der so ähnlich wie „Heiland“ klingt. Erst später wird mir klar, was damit gemeint ist: Auf den Plastikwasserflaschen, die wir stets in großer Menge im Wagen mitführen, steht auf dem Etikett die Bezeichnung des Mineralwassers und die Abfüllfirma aus dem südäthiopischen Hochland – und die heißt „Highland“.

Die Kinder laufen mit Plastikflaschen herum und möchten Wasser oder leere Flaschen. Am Straßenrand führen sie mit den Flaschen in der Hand manchmal lustig anzusehende Tänze auf, um auf ihre Wünsche aufmerksam zu machen.

Wasser – für uns oftmals nichts Besonderes, ganz anders in Südäthiopien: hier ist Wasser eine Kostbarkeit, die rar ist. In den Häusern oder Hütten gibt es überhaupt keine Wasserstellen und auch manche Dörfer haben nicht einmal einen eigenen Brunnen. Überall sieht man gelbe Plastikkanister, die die Frauen auf ihrem Kopf tragen und das Wasser von weit herholen. Eine große Erleichterung ist es bereits, wenn die schweren Kanister mit einem Eselfuhrwerk transportiert werden können.

In manchen Gegenden haben die Menschen große schräge Brunnenschächte mit Becken angelegt, die bis zu 15 Meter in die Erde gegraben sind. Eintönige Gesänge begleiten die Männer und Frauen bei der schweißtreibenden Arbeit, einen Kübel nach dem anderen nach oben weiterzureichen, um die Becken mit Wasser für ihre Tierherden zu füllen. Daher sind diese Wasserstellen auch als „singende Brunnen“ bekannt. Es ist wirklich eine gänzlich andere Welt, wo man zum Nachdenken angeregt wird – und das Leben in der Heimat bewusst schätzen lernt.

Malerische Seen

Andere Perspektiven zum Thema „Wasser“ eröffnen uns die malerischen Seen, die wir besucht haben. So haben wir einmal in der Früh die Arbeiten der Fischer am Ufer des Awassa Sees miterleben können. Mit ihren einfachen Holzbooten kehren sie von ihrem Fischfang zurück und können ihre Ware gleich in der kleinen Markthalle verkaufen. Am Ufer stehen Ibisse und Reiher und warten bereits sehnsüchtig auf die Fischreste.

Besondere Erlebnisse haben wir am Chamo-See, der in der Nähe der Stadt Arba Minch liegt. Mit einem kleinen Holzboot machen wir eine Bootsfahrt und können in traumhafter Landschaft die vielfältige Vogelwelt beobachten. Geduld und Glück brauchen wir, um die Nilpferde zu erspähen, wenn sie aus dem Wasser auftauchen, um Luft zu holen. Der Höhepunkt ist aber zweifelsohne eine kleine Insel, die als „Korokodilmarkt“ bezeichnet wird. Wahrscheinlich deshalb, weil sich hier zahlreiche Krokodile befinden, als würden sie zum Verkauf angeboten werden. Wir verharren ganz ruhig und können diese großen Reptilien beobachten, wie sie durch das hohe Ufergras in ´s Wasser gleiten oder mit weit geöffnetem Maul in der Sonne auf der Sandbank liegen.

Die Bienenhäuser der Dorze

Nicht weit von Arba Minch besuchen wir die einst kriegerischen Dorze-Stämme, die heute von der Landwirtschaft und Weberei leben. Fast alle tragen eine alte Kalaschnikow, ein Symbol ihres Wohlstands. Ein Gewehr kostet einige Rinder. Rinder sind die Bezugsgröße für nahezu alles hier.

Augenfällig sind ihre Unterkünfte: Die kunstvoll geflochtenen Hütten der Dorze stehen immer unter den Sträuchern der „falschen Banane“ und haben die Form eines Bienenkorbes. Auf diese Weise sind die Dorze sehr „mobil“, denn sie können ihre Häuser sogar in einem Stück transportieren. Die Menschen leben mit dem Vieh zusammen unter einem Dach – die Hühner oben im First und die Rinder in einem abgeteilten Holzverschlag. Das schafft Wärme in kälteren Nächten.

Beim König der Konso

Gänzlich anders die Unterkünfte der Konso. Ihre dicht bebauten Siedlungen liegen auf Hügeln und sind ähnlich einer Festung von hohen und massiven Steinwällen umzäunt. Die Häuser sind aus Stein und Holz und jede Familie besitzt ein eigenes Gelände mit drei bis fünf Hütten, das von einem dickichtartigen Holzzaun umgeben ist. Manchmal müssen wir fast am Boden kriechen, um in das Innere eines Gehöfts zu gelangen.

Nur in gebückter Haltung kommen wir zu einer besonderen Anlage – zu den Hütten des Königs. Bunt (nahezu modern) gekleidet und mit freundlichem Lächeln werden wir vom König der Konso empfangen, der hier für 300.000 Menschen der oberste Repräsentant ist.

Wir setzen uns in einer Rundhütte auf den Boden und er erklärt uns in gutem Englisch die alten Traditionen und Regeln nach denen die Konso hier leben. Stolz zeigt er mir danach Bilder seiner Vorfahren und auf einem Foto ist die Mumie seines Vaters abgebildet. Wie im alten Ägypten werden die Toten der Königsfamilie mumifiziert. Daneben gibt es bei den Konso noch einen anderen Totenkult: Zur Erinnerung an die verstorbenen werden Holzfiguren geschnitzt und aufgestellt. So kann der Geist des Toten in der hölzernen Skulptur (Waka) weiterleben.

Am Wochenmarkt in Key Afer

Auf unserer Fahrt Richtung Süden passieren wir den an und für sich unscheinbaren Ort Key Afer, dem Hauptdorf des Banna-Stammes. Da aber gerade Donnerstag und Markttag ist, halten wir an. Wir reihen uns in die lange Schlange der Menschen ein, die zum Marktplatz zieht. Ein buntes, farben-trächtiges Treiben.

Die Banna-Frauen tragen häufig Kalebassen als Kopfbedeckung, die sie auch als Trinkgefäß benutzen. Junge Männer haben stolz eine Feder an ihrem Kopf stecken. Das ist eine Auszeichnung dafür, dass sie auf der Jagd ein wehrhaftes Wild wie einen Löwen, Leoparden oder Wasserbüffel erlegt haben. Und nahezu jeder Mann trägt einen kleinen, aus Holz geschnitzten Hocker in der Hand, auf den er sich beim langen Feilschen um den Preis einer Ziege oder eines Schafes auf dem Tiermarkt setzen kann.

Die Welt der Mursi

Auf staubigen Pisten fahren wir durch sanftes Savannenland in den Mago Nationalpark. Ein Scout steigt zu uns in den Wagen, um uns zu den Dörfern der Mursi-Stämme zu begleiten. Er ist wie alle Parkwächter bewaffnet (wegen der Wilderer, die hier ihr Unwesen treiben) und trägt seine Kalschnikow mit sichtlichem Stolz. Als er erfährt, dass wir nicht gleich beim ersten Dorf, das doch sehr „touristisch“ aussieht, anhalten wollen, wird sein Gesichtsausdruck immer finsterer. Im Laufe der Fahrt kommt es zwischen ihm und unserem einheimischen Führer zu einer lauten Auseinandersetzung und er wollte uns beinahe überhaupt nicht mehr begleiten. Schließlich willigte er widerwillig in unseren Plan ein und die aufgeheizte Situation entspannt sich. Eine gute Gelegenheit, um ihm einen meiner mitgebrachten Kugelschreiber zu schenken. Ein ganz leicht freundliches Lächeln huscht über sein Gesicht – und er wird mir später noch wertvolle Dienste leisten.

Die Mursi sind Hirtennomaden, die normalerweise nur für kurze Zeit ein Lager einrichten, in dem sich Frauen, Kinder und ältere Personen aufhalten, während die jüngeren Männer mit den Herden unterwegs sind. Das hervorstechendste sichtbare Merkmal bei den Mursi ist der ungewöhnliche Schmuck der Frauen: als Schönheitszeichen tragen sie große Tonteller in den aufgeschnittenen Unterlippen. Jedes Mädchen formt und brennt sich seine Lehmscheibe selbst. Immer größere Exemplare werden eingesetzt, um die Unterlippe allmählich zu dehnen. Auf dieselbe Art werden auch die Ohrläppchen verziert. Ein besonders großer Lippenteller geht mit entsprechend höherem Status und Brautpreis für die Frau einher.

Wenn die Frauen ihre Tonteller herausnehmen, hängt ein wulstiger Lippenring über ihr Unterkinn. Man sieht dann, dass die unteren Zähne herausgebrochen wurden, um die runden Tonplatten einsetzen zu können. Weitere Schönheitsattribute sind umfangreiche Körperverzierungen, die aus geometrisch angebrachten Narben bestehen. Bei den Männern findet man vor allem bei Ritualen weiße Bemalungen.

Dies alles ergibt natürlich für einen Fotografen faszinierende Motive. Fotografieren ist auch ohne weiters möglich – aber man muss pro Foto einen gewissen Betrag (ca. zwei Birr) bezahlen. Angesichts ihrer kargen und schwierigen Lebenssituation sind ihre Traditionen zu einer Geldquelle geworden. Dafür hat jeder Verständnis – nur die Begleitumstände sind bedenklich.

Jeder möchte gegen Geld fotografiert werden. Damit wir genügend Kleingeld bei uns haben, hat unser Reiseleiter in Addis in der Bank vorsorglich einen Sack voll mit neuen Münzen besorgt. Als ich aber dann einen älteren Mann für eine Aufnahme bezahlen möchte, gibt er mir die Münze empört wieder zurück. Ich weiß nicht, warum und ziehe unseren Scout zur Rate. Der erklärt mir, dass man die neuen Münzen hier nicht kennt und daher nur Geldscheine akzeptiert. Sogleich beginnt in der Gruppe ein reger Tauschhandel, um an kleine Geldscheine zu kommen.

Es ist kaum möglich, nur einen Menschen alleine zu fotografieren. Hebt man die Kamera, stellen sich gleich zehn weitere in einer Reihe auf und wollen ebenfalls aufgenommen werden. Sie weisen auf sich oder ihre Kinder und alle fordern Geld - jeder für sich einzeln. Eine gemeinsame Bezahlung mit einem größeren Geldschein ist nicht möglich. Als eine Mursifrau mit großem Lippenteller besonders aggressiv wurde, um fotografiert zu werden und einen Teller zu verkaufen, hole ich den Scout zur Hilfe. Der begleitet mich ab nun durch das Dorf und führt vor jedem Foto die „Verhandlung” mit den Menschen. Das erleichtert den Rundgang ungemein. Man glaubt gar nicht, was ein Kugelschreiber als Geschenk bewirken kann…

Das Leben in der Lodge und am Omo

Im Gebiet von Omorate leben die Geleb-Stämme, auch Dassanech genannt an beiden Seiten des Omo-Flusses. Der Fluss ist hier ca. 150 Meter breit und wir überqueren ihn mit einem Einbaum. In dem kleinen Boot das Gleichgewicht zu halten, ist gar nicht so einfach – und wir wurden vor der Fahrt aufmerksam gemacht, dass dies jeder auf eigene Gefahr macht. Die Gefahr des Kenterns scheint offenbar gegeben zu sein.

Eine der strikt eingehaltenen Traditionen der Dassanech sind die kunstvoll angefertigten männlichen Haarfrisuren, die die Alterszugehörigkeit anzeigen. Die Frauen haben am Kinn, direkt unterhalb der Lippen, ein dekoratives Piercing.

Das Bull-Springen bei den Hamar

Die zahlenmäßig größten Volksgruppe in diesem Gebiet sind die Hamar. Berühmt sind sie unter anderem für ihren traditionellen Initiationsritus der jungen Männer, dem „Sprung über die Rinder.“ (okuli). Alle Mitglieder des Clans, aus dem der Bursche stammt, der den Bullensprung machen wird, sind teilweise von sehr weit angereist und haben lange Fußmärsche hinter sich.

Zum Glück haben wir genug Zeit eingeplant, denn bis es so weit ist vergehen am Nachmittag etliche Stunden. Zuerst werden unter einer Baumgruppe die Gesichter von jungen Männer mit Naturfarben kunstvoll bemalt. Gleichzeitig sitzen am Festplatz bereits die ersten Gruppen von Menschen am Boden beisammen und erfreuen sich am Hirsebier oder kauen die Blätter des Kathstrauches. Es ist ein lautes und lustiges Treiben.

Vom Platz daneben hören wir Lachen und das laute Tuten aus zahlreichen kleinen Trompeten. Eine Gruppe von Hamar-Mädchen tanzt über den Platz während ihre Schellen an Knien und Armen unentwegt scheppern.

Die Hamar-Frauen sind berühmt für ihre Schönheit. Diese unterstreichen sie durch das Tragen von Zinnringen und anderen glänzenden Schmuckdekorationen. Das Zeichen einer verheirateten Frau ist ein Halsring aus Leder und Metall. Ihre Körper und Haare haben sie zum Schutz gegen Insekten, Sonne und Staub mit einer Mixtur aus Butter, Kalk und Ockererde eingerieben. Auch die Haare werden mit Butter zum Glänzen gebracht und in der Sonne läuft das Fett über Gesicht und Oberkörper und macht die Frauen zu goldbraun glänzenden Schönheiten.

Ein zusätzlicher Bestandteil dieses Festes bildet die rituelle Auspeitschung der Mädchen. Für uns wirkt dieser Akt eher brutal – aber von den Hamar wird dies anders empfunden. Dieses Auspeitschen steht im Zusammenhang mit dem Initiationsritus. Wenn junge Männer ihre Familie verlassen, um ein eigenes Leben zu führen, dann lassen sich die weiblichen Mitglieder der Familie peitschen, um damit ihre Trauer über den Verlust und ihren Mut zu zeigen. Die jungen Clanfrauen tanzen um einen jungen Mann, der sie zunächst lässig ignoriert. Sie necken ihn weiter, singen und stampfen bis er schließlich seine Gerte erhebt und durchzieht, dass es schnalzt. Über den Rücken des Mädchens läuft Blut, doch sie lacht nur höhnisch über den Schwächling. Die Wunde wird mit Butter und Lehm eingerieben. Je wulstiger die Narbe, desto schöner wird sie gefunden, desto höher ist der Status der Frau. Für die Unverheirateten des Clans ist es die höchste Ehre, ausgepeitscht zu werden. Je mehr Schläge sie einstecken, desto mehr zeigen sie, wie viel Schmerz sie bereit sind, für ihre Verwandten auszuhalten.

Nach vier Stunden ist es so weit. Der gesamte Clan ist nun auf dem Plateau, der Lärm erheblich, und die Akazien wirken im Abendlicht wie schwarze Riesenschirme. Ein junger, uninitierter Mann legt seine Kleidung ab und setzt sich nackt auf eine Rinderhaut. Dann bekommt er eine Lederschnur um den Körper gelegt während andere Männer die Rinder dazu bringen, nebeneinanderzustehen. Der junge Mann läuft an, steigt über ein Kalb hinauf und rennt über die Rücken der Rinder. Ein-, zwei-, viermal schafft er es, ohne herunterzufallen. E hat es geschafft, in die Gemeinschaft der Männer aufgenommen und heiratsfähig zu werden.


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