Georgien
Früher gelangte man in die abgelegene Gegend im Nordosten Georgiens nur über Pferdepfade. 1978 wurde eine Straße eröffnet, allerdings ist sie wegen starker Schneefälle ganze sieben bis acht Monate im Jahr gesperrt und erst ab Mitte Juni für den Autoverkehr geöffnet. Wenige Kilometer nach dem kleinen Dörfchen Lechuri endet die Asphaltstraße und geht über in eine schmale Schotterpiste, die mit jedem Kilometer wilder wird. Über 500 Meter tiefe Abhänge, sowie die ständige Gefahr von Steinschlägen machen die Fahrt zur Herausforderung.
Unser einheimischer Fahrer navigiert mit äußerster Vorsicht, ständig muss er Felsbrocken ausweichen. An manchen Stellen ist der Weg ziemlich ausgewaschen, es haben sich tiefe Rinnen und Löcher gebildet. Die Fahrt verläuft holprig, wir halten uns fest und stemmen die Beine gegen das Bodenblech. An manchen Stellen ist der Weg so eng, dass zwei Fahrzeuge nicht aneinander vorbeikommen. Spannend wird es immer dann, wenn wir genau an diesen Stellen auf entgegenkommende Fahrzeuge treffen und man dann auf der schmalen Piste zurücksetzen muss. Da kommt dann auch unser Fahrer ins Schwitzen. Dass die Straße nach Tuschetien als eine der gefährlichsten Routen der Welt gilt, wird uns immer wieder vor Augen geführt: Steinkreuze und Gedenksteine mit Fotos der Verunglückten erinnern daran.
Belohnt werden wir mit einem eindrucksvollen Panorama, das sich ständig ändert: Zuerst schlängelt sich die Piste durch dichte Wälder und folgt dann einige Zeit dem rauschenden Stori-Fluss. In endlosen Serpentinen windet sich der Weg den Berg hinauf, karge Felswände und schneebedeckte Gipfel ziehen an uns vorbei. Nach vielen Haarnadelkurven erreichen wir schließlich den Abano-Pass auf 2.850 Metern. Er ist einer der höchstgelegenen Übergänge Europas. Nebelschwaden und dichte Wolken hängen über den Bergen während wir über kleine Schneefelder das Gipfelkreuz erreichen.
Wanderungen in unberührter Natur
Nach etlichen anstrengenden Stunden erreichen wir das Dorf Omalo, das Tor ins unberührte Tuschetien. Im 4. Jahrhundert sind die Tuscheten in dieses unwirtliche Bergland gezogen. Viele von ihnen sind auch heute noch Hirten mit großen Schafherden. Bekannt sind der hochwertige tuschetische Käse und die Schafwolle. Wegen der Abgeschiedenheit haben die Menschen viel von ihren alten Traditionen bewahrt.
Der Ort ist in zwei Teile geteilt: das untere Dorf (Kvemo Omalo) und das obere Dorf (Zemo Omalo). Die traditionellen Steinhäuser mit ihren hölzernen Balkonen und die alten Wehrtürme sind Zeugen längst vergangener Zeiten. Wir wandern hinauf zur Festung Keselo, die auf einer Bergkuppe über dem Oberdorf thront, ringsherum blühende Wiesen und weite Almen. Wir haben Glück mit dem Wetter: Bei Sonnenschein zeigen sich die schneebedeckten Berge des Großen Kaukasus in ihrer vollen Pracht.
Tuschetien ist ein wahres Paradies für Naturliebhaber und Wanderer. Eine der bekanntesten Wanderrouten führt uns zum Dorf Dartlo, das etwa 15 Kilometer nordwestlich von Omalo liegt. Der Weg verläuft durch eine faszinierende Berglandschaft mit wilden Blumen und klaren Gebirgsbächen. Wir sind hier allein unterwegs und genießen die Ruhe und Abgeschiedenheit.
Zeremonienmeister der Gastfreundschaft
Müde, aber zufrieden kehren wir zu unse¬rem Quartier in Omalo zurück. Dort wurde bereits das köstliche Abendessen zubereitet, auf uns wartet ein herzlicher Empfang. Wir genießen Gerichte wie Khinkali (mit Fleisch oder Käse gefüllte Teigtaschen), Chakapuli (Eintopf aus Lammfleisch, Kräu¬tern und Pflaumen) sowie frisches Brot, das über offenem Feuer gebacken wird.
Auch das Trinken kommt nicht zu kurz. Dabei spielt der „Tamada“ eine ganz wichtige Rolle. Er ist der Zeremonienmeister und ein wichtiger Bestandteil des sozialen Lebens - ein Symbol für Gemeinschaft und Gastfreundschaft. Seine Hauptaufgabe ist es, die Trinksprüche anzuleiten, die bei keinem Festessen fehlen dürfen. So stoßen wir auf Gott, das Vaterland Georgien, Familie, unsere Freundschaft oder den Frieden an - und das ausgiebig mit Tschatscha, einem hochprozentigen Traubenschnaps.
Die Herzlichkeit der Menschen
Die Sonne ist inzwischen schon lange hin¬ter dem Horizont verschwunden, und die Festung über dem Dorf erstrahlt im Schein¬werferlicht. Unter unserem Gästehaus ent¬decken wir auf einer Wiese ein Lagerfeuer, neugierig marschieren wir hin. Ein Gruppe Jugendlicher sitzt auf kleinen Holzbänken und unterhält sich. Die anfängliche Distanz weicht schrittweise, als zwei junge Frauen mit einem Akkordeon und einer Gitarre erscheinen. Beim Flackern des Lagerfeuers werden georgische Lieder gesungen, die teilweise schwermütig klingen und an die harten Zeiten von einst erinnern.
Später werden wir aufgefordert, Lieder aus unserer Heimat zu singen – und auf einmal herrscht trotz der Sprachbarrieren eine völkerverbindende Stimmung. Solche emotionalen Momente kann man nicht planen – sie sind Glückssache. Und wir hatten öfter Glück, denn wir durften solche Gesten der Herzlichkeit und Wärme noch öfter erleben.
So ist beispielsweise bei einem unserer Spaziergänge durch ein Dorf plötzliche eine ältere Frau aus ihrem Haus auf uns zugelaufen und überreicht einer Dame unserer kleinen Gruppe ganz spontan einen Blumenstrauß aus ihrem Garten. Als ich ihr als kleines „Dankeschön“ Mannerschnitten aus Wien übereiche, fällt sie mir gleich um den Hals und umarmt mich.
Ein anderes Mal überqueren wir mit unserem Bus einen kleinen Bach, an dessen Ufer eine Gruppe Männer um einen Tisch sitzt und Schnaps trinkt. Sofort werden wir zu ihnen eingeladen, auch einen Schluck zu nehmen. Auch ohne Worte wird die die sprichwörtliche Gastfreundschaft und Herzlichkeit der Menschen spürbar. Denn für die Georgier gibt es einen alten Grundsatz: „Der Gast ist ein Gast ein Geschenk Gottes.“
Kasbek: Berg der Mythologie
Der Große Kaukasus schirmt Georgien auf einer Länge von 1.100 Kilometern gegen Norden ab und bildet damit eine natürliche Grenze zu Russland. Der höchste und markanteste Berg in diesem Gebiet ist der Kasbek mit 5.047 Metern. Der Weg dorthin führt uns über die georgische Heeresstraße, die seit Jahrhunderten eine zentrale Rolle für den Handel und die Kultur spielt. Sie erstreckt sich über etwa 212 Kilometer und verbindet die georgische Hauptstadt Tiflis mit Wladikawkas in Russland.
Vorbei an kilometerlangen Lastwagenkolonnen, die Richtung Russland rollen, erreichen wir Kasbegi (Stepanzminda). Von unserem Hotel aus haben wir einen herrlichen Blick auf die die Dreifaltigkeitskirche, die auf einem Hügel vor der mächtigen Kulisse des Kasbek thront. Der Berg mit seinem schneebedeckten Gipfel ist nicht nur ein landschaftliches Highlight, sondern auch ein Ort von historischer Bedeutung. Der griechischen Mythologie zufolge wurde Prometheus hier an einen Felsen gekettet, weil er den Göttern das Feuer entwendet und unerlaubt den Menschen gegeben hatte.
Die pulsierende Hauptstadt Tbilisi
Nach diesen Naturerlebnissen erreichen wir die Hauptstadt Tiflis (Tbilissi). Hier begegnet uns eine faszinierende Mischung aus alter Geschichte und modernem Lebensstil. Hoch über dem Fluss Kura wacht König Wachtang Gorassali. Er gründete die Stadt im Jahre 485 nach der Befreiung des Königreichs Iberien von der persischen Herrschaft. Von dem großen Platz aus, auf dem sein Reiterstandbild neben der Metechi- Kirche steht, haben wir einen guten Blick über die Altstadt.
Diese ist ein Labyrinth aus schmalen, gepflasterten Gassen und bunten Häusern mit traditionellen Holzbalkonen. Im Stadtteil Abanotubani befinden sich Schwefelbäder, die an ihren charakteristischen Ziegelkuppen leicht zu erkennen sind. Von diesen Schwefelquellen leitet sich auch der Name der Hauptstadt ab: das altgeorgische Wort t’bili bedeutet so viel wie „warme Quelle“.
Zeugen einer langen Geschichte sind die verschiedenen Sakralbauten der Stadt. So wurde im 6. Jahrhundert die Sioni-Kathedrale errichtet. Diese Hauptkirche des Patriarchen der georgischen Kirche beherbergt das Weinrebenkreuz der heiligen Nino. Der Überlieferung nach geht die Christianisierung Georgiens (4. Jahrhundert) auf die aus Syrien stammende Heilige zurück. Sie soll von der Jungfrau Maria ein Kreuz aus Rebstock bekommen haben, das sie bei ihrer Missionierung immer bei sich trug. Sie wird heute als Schutzheilige verehrt und in vielen Kirchen können wir die Ikone von ihr sehen.
Dass die Stadt aber nicht in der Vergangenheit verharren will, zeigen etliche moderne Bauten – etwa die Friedensbrücke als Symbol für die Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Die modern geschwungene Fußgängerbrücke besteht aus Stahl und Glas und führt über den Fluss Kura direkt in den Rike-Park. Dort befindet sich die Konzerthalle mit zwei futuristischen Glasröhren aus Metall. In der Nacht glitzert die Brücke mit rund 30.000 LEDs in verschiedenen Farben.
Die besondere Atmosphäre der Stadt wird am Abend und in der Nacht durch die lebendige Kulturszene noch verstärkt. Aus vielen Kellern dringt Musik und Straßenkünstler ziehen die Menschen in ihren Bann. Am Weg zu unserem Hotel treffen wir auf dem Meidan-Platz auf eine Musikgruppe, um die sich herum bereits eine Gruppe versammelt hat. Zum Klang der Musik springen Menschen spontan in den Kreis hinein und wir erleben einige Tanzvorführungen, die die georgische Folklore mit modernen Elementen kombinieren.
Angespannte Beziehungen zu Russland
An vielen Plätzen der Hauptstadt weht die EU-Fahne. Damit wird signalisiert, dass sich Georgien in den letzten Jahren verstärkt dem Westen zugewandt hat. Das wird von Russland allerdings als Bedrohung seiner Interessen gesehen. Bereits in der Vergangenheit gab es immer wieder Konflikte mit dem großen Nachbarn: Als Georgien nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 seine Unabhängigkeit erlangt hatte, kam es zu einem Streit über den Status der georgischen Regionen Abchasien und Südossetien, die umfangreiche Autonomie anstrebten und von Russland Unterstützung erhielten. Im August 2008 eskalierten der Konflikt militärisch. Der Krieg hatte tiefgreifende politische und soziale Auswirkungen. In den Gesprächen mit den Menschen spüren wir, dass die Wunden bis heute nicht verheilt sind, man misstraut dem mächtigen Nachbarn.
Aktuell spitzt sich die Lage wieder zu: Seit die prorussische Regierungspartei „Georgischer Traum“ verkündete, die Verhandlungen mit der EU über einen Beitritt bis Ende 2028 aussetzen zu wollen, kommt es zu heftigen Protesten. Es gibt Berichte über Misshandlungen von Demonstranten und das brutale Vorgehen der Polizei. Für weiteren Konfliktstoff sorgt die Wahl von Michail Kawelaschwili zum neuen Präsidenten. Er war der einzige Kandidat, weil die Opposition die Abstimmung boykottierte.
Die Höhlenstadt Vardzia
Weit weg von den Ereignissen in der Hauptstadt erwartet uns im Süden Georgiens nahe der türkischen Grenze ein besonderes Highlight: die Höhlenstadt Vardzia. Schon bei der Anfahrt sind wir von der imposanten Silhouette überwältigt. In eine rund 500 Meter aufragende Felswand wurde eine ganze Stadt geschlagen. Die Baumeister nutzten Vor- und Rücksprünge für die Errichtung tiefer Höhlen, die sich über mehrere Etagen erstrecken und durch ein labyrinthartiges System von Tunneln und Treppen miteinander verbunden sind.
Bauherr war der georgische König Giorgi III, der die die Stadt als Grenzfestung gegen Türken und Perser errichten ließ. Für die Einwohner waren ursprünglich 3.000 Wohnungen auf bis zu sieben Stockwerken errichtet worden. Kam ein feindliches Heer, konnten hier bis zu 50.000 Menschen aus der Umgebung Zuflucht finden. Neben den Wohnstätten gab es auch Bäckereien, Ställe, Badebassins, Kirchen sowie eine Bibliothek und eine Schatzkammer. Die Wasserversorgung wurde aus den Quellen des Berges gespeist. Für eine ständige Luftzirkulation in den Höhlen sorgten raffiniert angelegte Windkanäle.
Besonders beeindruckend ist die Mariä- Himmelfahrt-Kirche mit ihren gut erhaltenen farbigen Fresken. Von großer Bedeutung sind die Darstellungen des Erbauers König Giorgi III. und seiner Tochter Tamar. Sie richtete hier ein Kloster ein und lebte während eines militärischen Konflikts mit den Seldschuk-Türken von 1193 bis 1195 mit ihrem Gefolge in der Höhlenstadt.
Swanetien – das Land der Wehrtürme
Vom Südwesten setzen wir unsere Reise in Richtung Nordwesten fort. Die Fahrt nach Swanetien führt über kurvenreiche Bergstraßen umgeben von atemberaubenden Panoramen des Großen Kaukasus. Auf 1.500 Metern Höhe befindet sich Mestia, das Verwaltungszentrum der Region Oberes Swanetien. Bereits bei der Anfahrt beeindruckt uns das Ensemble der Wehrtürme, die zum UNESCO-Weltkulturerbe zählen. Diese bis zu 25 Meter hohen Steintürme wurden im 11. bis 13. Jahrhundert erbaut. Sie besitzen meist drei bis vier Stockwerke und verfügen über Schießscharten und Geheimgänge. Der Eingang befindet sich in sechs Metern Höhe und ist nur über eine Leiter zu erreichen, die bei Gefahr eingezogen werden konnte. So bo¬ten diese Türme den Großfamilien Schutz vor Feinden.
Am Fuß der Wehrtürme befinden sich die Wohnstätten, Matschubi genannt. Im Matschubi-Familienmuseum können wir uns eine Vorstellung vom Leben in alten Zeiten machen: In der Mitte des Raums stehen in quadratischer Aufstellung Bänke rund um die zentrale Feuerstelle. Für das Familienoberhaupt gibt es einen reich verzierten Stuhl aus massivem Holz. In diesem Raum lebten noch bis Anfang des 20.Jahrhunderts Mensch und Tier zusammen. An zwei Seiten können wir die geschnitzte Holzverkleidung mit Öffnungen für die Rinder sowie die Futtertröge davor sehen. Darüber befanden sich die Schlafstellen der Familienmitglieder, die von der Köperwärme der Tiere gewärmt wurden.
Kostbarkeiten im Ethnografische Museum
Weit zurück in die Vergangenheit führt uns der Besuch des ethnografischen Museums in Mestia. Hier befinden sich faszinierende Kunstgegenstände, die bis in die sumerische Zivilisation zurückreichen. Einige jahrtausendealte goldene Statuen sind angeblich mit der griechischen Legende vom Goldenen Vlies verbunden. Demnach kam Prinz Jason nach Westgeorgien (das antike Kolchis), um mithilfe von Medea das Goldene Vlies in sein Land zurückzubringen.
Darüber hinaus beherbergt das Museum eine der ältesten Bibeln Georgiens aus dem 9. Jahrhundert. Viele der kostbaren Schätze stammen aus der Zeit der Königin Tamar. Sie hat ihre Schätze den Swanen zur Aufbewahrung übergeben, um sie vor den Mongolen zu schützen
Zum höchstgelegenen Dorf Europas
Auf unserer Reise wollen noch weiter hinauf. Und so planen wir einen Ausflug nach Ushguli – zum höchstgelegene dauerhaft bewohnten Dorf Europas. Der Ort liegt auf 2.200 Metern und ist nur zu bestimmten Zeiten erreichbar. Bis zu sechs Monate liegt hier Schnee, und auch sonst ist die unbefestigte Straße oft nur schwer passierbar. Immer wieder kommt es zu Starkregen, Hagelschlag, Überflutungen, Hangrutschen oder Lawinenabgängen. So wird uns geraten, für die Anreise einen lokalen Fahrer zu nehmen.
In Ushguli scheint die Zeit stillzustehen. Die Einheimischen, die in traditionellen Steinhäusern leben, bewahren ihre uralten Bräuche und Lebensweisen. Wir nutzen die Gelegenheit, hausgemachten swanetischen Käse und lokalen Wein zu kosten, der in großen Tonkrügen fermentiert wird.
Wir wandern hinauf zur Lamaria-Kirche, die oberhalb des Dorfs liegt. Von dort bietet sich uns ein atemberaubender Blick auf die schneebedeckten Kaukasus-Gipfel. Am Abend besuchen wir eine folkloristische Vorstellung, bei der traditionelle Tänze und Gesänge der Swanen aufgeführt wurden. Die Musik, begleitet von der Laute Panduri, und die kraftvollen Stimmen der Sänger hinterlassen einen tiefen Eindruck. In einer der wildesten und abgelegensten Regionen Europas und bei herzlichen Begegnungen erleben wir das authentische Georgien.
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