Kambodscha

Das Reich der Khmer
Kambodscha ist ein Land der Gegensätze: Auf der einen Seite einzigartige Tempelanlagen, die vom Reichtum vergangener Kulturen erzählen sowie moderne Konsumtempel in der Hauptstadt und auf der anderen Seite die weit verbreitete Armut im ganzen Land.

Rush-Hour in Phnom Penh: Die Straße zu überqueren ist ein waghalsiges Abenteuer. Motorroller verstopfen die Verkehrsadern der Hauptstadt Kambodschas in beiden Fahrtrichtungen. Für jedes weitere Vehikel fehlt der Platz. Zu dritt, mit Kindern auch zu fünft, bahnen sich Menschen auf geschätzt 500.000 Motorrollern den Weg durch den Verkehrsdschungel. Es bleibt ein Rätsel, wie dieses Verkehrschaos funktioniert.

Die Fahrt mit einer Fahrradrikscha ist eine gute Alternative zum nervenaufreibenden Spaziergang. Mit erstaunlichem Geschick und stoischer Ruhe manövriert der Fahrer sein Gefährt durch das Gewühl, aus dem neben den Abgasen der Dampf aus den Garküchen aufsteigt. Asiaten lieben bereits zum Frühstück eine kräftige Suppe aus dem rollenden Imbiss.

Wie in typisch französischen Kolonialstädten prägen breite Boulevards die Stadt, gesäumt von Geschäftshäusern, Hotels und Villen. Straßenbezeichnungen geben Hinweise auf das Angebot: Wir schlendern durch die Straße der Korbmacher, der Juweliere und anderer Gewerbe in der Altstadt. Die Einkaufsmöglichkeiten sind nahezu unbegrenzt. Fast jeder scheint einen eigenen Verkaufsstand zu haben, wo er Waren oder seine Dienstleistung anbietet. Neben diversen Märkten mit einer unüberschaubaren Vielfalt an Waren gibt es luxuriöse Einkaufszentren, die auch nach westlichen Maßstäben modern sind.

Das Dorfleben: eine Zeitreise in die Vergangenheit

Szenenwechsel: Auf einer Landstraße außerhalb von Phnom Penh karren zwei Zeburinder auf großen Speichenrädern langsam ihren Wagen auf auf uns zu. Der Bauer grüßt freundlich. Es ist heiß. Wir halten Ausschau nach kühlen Getränken. Am Straßenrand erblicken wir Holzgestelle bestückt mit großen Limonaden- und Colaflaschen, gefüllt mit einer gelblichen Flüssigkeit. Wir wollen Limonade kaufen. Unser Fahrer lacht und klärt uns auf: Es ist eine „Tankstelle“ für Mopeds – die Flaschen beinhalten Treibstoff! Wir sind verblüfft. Hier auf dem Land ist so ein Moped schon ein großer Luxus und so wird es auch vielfältig genützt – wie zum Beispiel für spezielle Tiertransporte: Auf dem Rücken liegend werden lebende Schweine auf dem Moped festgeschnallt und zum Markt in die nächste Provinzhauptstadt gebracht.

Etwas später sticht uns noch etwas anderes ins Auge: Auf hölzernen Paletten sind große Batterien aneinander geschichtet, die wie LKW-Batterien aussehen. Sie versorgen die Dörfer mit Strom. Eine andere Energiequelle für die ländlichen Haushalte gibt es nicht. Antennenschüsseln zwischen den Pfahlbauten, „pteah“ genannt, wirken bizarr. Die Rundhölzer, auf denen die Plattform der Häuser ruht, sind einige Jahre im Schlamm imprägniert worden, damit sie gegen Termiten geschützt sind. Der Wohnbereich ist über eine Leiter mit 3, 5, 7 oder 9 Stufen zu erreichen (eine gerade Zahl würde Unglück bedeuten), die man bei Bedarf einziehen kann. Durch diese Bauweise ist das Pfahlhaus in der Regenzeit vor Wasser und Bodenfeuchtigkeit ebenso geschützt, wie vor Ratten oder Schlangen. Unter den Häusern befindet sich der Platz für das Vieh, den Holzkarren und Ackergeräte sowie für den Webstuhl der Frauen.

Diese Fahrten zu etwas abgelegeneren Dörfern eröffnet uns eine völlig neue Welt. Es ist eine Zeitreise durch das ursprüngliche Kambodscha – in eine Welt, wo die Zeit stehen geblieben zu scheint .Die Eindrücke, die man bei so einer Fahrt von Dorf zu Dorf sammeln kann, gehörten für mich neben den berühmten Tempelanlagen von Angkor Wat sicherlich zum Beeindruckendsten dieser Kambodscha – Reise.

Hartes Alltagsleben

Kambodscha lässt sich zweifelsohne als „Land der Gegensätze“ bezeichnen: Auf der einen Seite das pulsierende Leben und die Einkaufspaläste in der Hauptstadt, auf der anderen Seite die weit verbreitete Armut im ganzen Land. Von den rund 17 Mio. Menschen leben mehr als die Hälfte unterhalb der Armutsgrenze. Sie müssen mit weniger als zwei US-Dollar pro Tag auskommen, einige von ihnen können sich nur jeden zweiten Tag eine Mahlzeit leisten.

Da neben den Sehenswürdigkeiten der Bereich „Mikrofinanzierung“ einen wichtigen Schwerpunkt dieser Reise bildete, hatten wir immer wieder Kontakt mit der Bevölkerung und lernten ihre Alltagssorgen kennen. Während es bei uns heute eine Selbstverständlichkeit darstellt, ein Konto zu eröffnen, einen Kredit aufzunehmen oder Anspar- und Versicherungsprodukte abzuschließen, hat der Großteil der Bevölkerung keine Möglichkeit, gängige Bankdienstleistungen zu nutzen. Kleinstunternehmer erhalten kaum Bankkredite, da sie vielfach über keine Sicherheiten verfügen. Außerdem ist den ansässigen Geschäftsbanken der administrative Aufwand für die meist sehr kleinen Kreditbeträge zu hoch.

Zielgruppen für Mikrokredite sind Kleinstunternehmer, die ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen. Handwerker, Händler, Bauern oder Selbständige im Dienstleistungssektor nutzen die Möglichkeit der Kreditaufnahme, um unternehmerische Aktivitäten zu starten. Mikrounternehmer benötigen keine großen Investitionen. So treffen wir einen Fischer, der ein neues Netz erwerben möchte oder eine Näherin, die einen Kredit für eine Nähmaschine benötigt. Tischler, Dachdecker oder Korbmacher müssen einfache Werkzeuge anschaffen, der Bauer braucht Geld für den Saatankauf oder für einen neuen Brunnen. Wir besuchen auch einen Steinmetzbetrieb, in dem Buddhastatuen hergestellt werden sowie eine einfache Ziegelmanufaktur, in der nur eine einzige Maschine arbeitet. Und immer wieder wird klar: Bereits relativ kleine Beträge setzen enorme unternehmerische Energie frei.

Reis – die Lebensgrundlage

Das Grundnahrungsmittel ist Reis. Die Beilagen bestehen aus Gemüse oder Fisch, Fleisch gibt es selten. „Essen“ heißt hier wörtlich übersetzt „Reis essen“. Aus den Reiskörnern machen die Frauen beispielsweise Brot, Kuchen oder Süßspeisen, brauen Reisbier und Reisschnaps. Die Keime verarbeiten sie zu Speiseöl, Seifen oder Kerzen, Reismehl liefert auch Kleister oder Wäschestärke.

Reis ist ertragreich – sein Anbau allerdings auch sehr arbeitsintensiv: Dank ausgeklügelter Bewässerungssysteme sind mehrere Ernten im Jahr möglich. Das Schachbrettmuster der Reisfelder mit den verschiedenen Grüntönen prägt das Landschaftsbild rund um die Dörfer. Reizvolle Fotomotive sind die inmitten der Felder arbeitenden Menschen mit ihren charakteristischen Strohhüten oder die Bauern, wenn sie hinter zwei Wasserbüffeln mit hölzernem Pflug den Boden bearbeiten.

Das was wir als ländliche Idylle empfinden ist für die Landbevölkerung tatsächlich harte Arbeit für ihren Überlebenskampf. Die meisten Bauern können sich keine Maschinen leisten und so sind viele Tätigkeiten wie das Pflanzen, Ernten oder Dreschen der Reiskörner aus den Garben noch mühsame Handarbeit.

Ein Fluss ändert seine Richtung

So ursprünglich wie am Land ist auch das Leben am Wasser. Die Khmer siedeln einem alten Sprichwort folgend am Wasser: „Wo das Wasser ist, ist der Fisch.“ Auch die hier ansässigen Vietnamesen, die in schwimmenden Dörfern am Tonle Sap leben, sind vor allem Fischer.

Das Wasserreich hier überrascht jedes Jahr mit einem Naturwunder: Ein Fluss ändert seinen Lauf! Der Tonle Sap ist nämlich weltweit der einzige Fluss, der auch gegen seine ursprüngliche Richtung rückwärts fließt. Immer dann, wenn der Mekong die Monsun- und Schmelzwasser kaum mehr aufnehmen kann, drängen seine Fluten in den Tonle Sap. Dieser fließt nun entgegen seinem natürlichen Lauf in den gleichnamigen See und verursacht damit Überschwemmungen gigantischen Ausmaßes. Die Oberfläche des Sees vergrößert sich bei diesem Naturschauspiel bis zum Siebenfachen! Das bewaldete Gebiet der umliegenden Regionen steht unter Wasser – und nur mehr die Baumkronen ragen aus den Fluten.

Die Menschen haben sich schon lange auf das jährliche Hochwasser eingestellt und nützen dieses Naturereignis, das ihnen jedes Jahr enormen Fischreichtum beschert. Geht der Wasserstand am Ende der Regenzeit wieder zurück machen sie ihre Hausboote von der Verankerung wieder los. Motorboote bringen sie zusammen mit ihren schwimmenden Gärten und Dorfschulen zu neuen Liegeplätzen.

Das Khmer – Reich: Imperium der Gottkönige

In der Ebene zwischen dem Tonle Sap – See und dem Berg Phnom Kulen liegen mehr als siebzig große Tempel aus verschiedenen Kunstepochen und mehr als tausend Heiligtümer aus der Zeit der Khmer. Mit der Gründung dieser Dynastie eng verbunden ist die Gestalt des Herrschers Jayavamann II.

Die Ebene zwischen Tonle-Sap-See und dem Berg Phnom Kulen im Norden des Landes beherbergt ein einzigartiges kunsthistorisches Erbe. Aus der Zeit der Khmer stammen die mehr als siebzig großen Tempel und mehr als tausend Heiligtümer von Angkor, die auf Königs Jayavamann II. zurückgehen. Als er um 790 von Java nach Kambodscha zurückkehrte, um die beiden Reiche unter seiner Krone zu vereinigen, ließ er sich als Gottkönig feiern. Er begründete den Königskult, der das weltliche und religiöse Leben über Generationen prägte.

Um ihre Vergöttlichung auch nach dem Tod zu sichern, bauten die Herrscher für sich und ihre Ahnen monumentale Tempelanlagen. Dieser Drang nach Bewahrung des Namens und Ruhmes über den Tod hinaus führte zu einer gigantischen Bautätigkeit und war der Ausgangspunkt für die Kunst von Angkor, dem Magnet des Tourismus in Kambodscha.

„Angkor“ bedeutet wörtlich übersetzt „Königliche Stadt“. Die damit verbundene Kultur umfasst den Zeitabschnitt vom 8. bis zum 13. Jahrhundert. Eine vage Vorstellung, wie sich die Tempel den französischen Forschern bei ihrer Wiederentdeckung im 19. Jahrhundert präsentiert haben, bekommen wir beim Besuch von Ta Prohm. Vom dichten, teilweise undurchdringlichen Dschungel umgeben liegen die Mauerreste dieser im 12. Jhdt. errichteten Klosteranlage, in der einst mehrere tausende Menschen lebten. Doch der Urwald eroberte im Laufe der Zeit sein Terrain zurück: Heute ist der Tempelkomplex von hohen Bäumen überwachsen, deren mächtiges Wurzelwerk sich wie Riesenschlangen um die Bauwerke winden.

Die Gesichtstürme von Ankor Thom

Entsprechend dem Kosmosbild im Hinduismus baute Jayavarman VII. am Beginn des 13. Jhdt. seine „Große Stadt“ (wie die wörtliche Übersetzung von Angkor Thom heißt) als Mittelpunkt des Universums. In der geographischen Mitte der Stadt liegt der Bayon Tempel. Das charakteristische Merkmal dieses Bauwerkes sind die berühmten Gesichtstürme, von denen heute noch 37 erhalten sind. Von jedem Turm blicken bis zu 4 Meter hohe Gesichter herab, von denen keines dem anderen gleicht. Gemeinsam ist ihnen jedoch der sanfte, lächelnde Gesichtsausdruck.

Angkor Wat – das Weltkulturerbe

Viele verbinden mit Angkor die Hauptstadt von Suriyavarmann II, unter dessen Herrschaft das Reich seine politisch und kulturell höchste Blüte erlebte. Von der Stadt und dem königlichen Palast, der ebenso wie die Häuser aus Holz erbaut war, ist nichts mehr erhalten geblieben. Nur der weltberühmte Tempel von Angkor Wat hat die zahlreichen Kriege, Eroberungen und die zerstörerische Kraft des Urwalds überlebt.

Der Tempel wurde in vierzig Jahren, zwischen 1110 und 1150, erbaut und dem hinduistischen Gott Vishnu geweiht. Das Volumen des Angkor Wat entspricht dem der Pyramiden in Ägypten. Damit ist er einer der größten Tempelkomplexe der Welt. Mit Hilfe eines Heißluftballons können wir auf 150 m Höhe aufsteigen und haben so die Chance, die gewaltigen Dimensionen der Anlage aus der Vogelperspektive zu betrachten.

Der gesamte Komplex bildet ein Rechteck von 1.500 x 1.300 m Länge und ist entsprechend der hinduistischen Mythologie eine perfekte Nachbildung des Universums: Der gesamte Aufbau von Angkor Wat ist dem Berg Meru nachempfunden, dem Wohnsitz der Götter – die fünf Türme symbolisieren die fünf Gipfel. Um in das Innere zu gelangen, muss symbolisch der gesamte Kosmos durchschritten werden: Zunächst überquert man auf einer Brücke den gut 200 Meter breiten Wassergraben, der die Tempelanlage umfließt und das Urmeer darstellt. Über einen Zugang, der seitlich von einem Geländer in Form eines Schlangen-körpers begrenzt ist, passiert man die flachen Kontinente und Ozeane der Welt. Den Mittel-punkt der Anlage bildet eine dreistufige Pyramide, in der sich das Allerheiligste befunden hat, vermutlich ein Standbild Vishnus, gekrönt von einer Lotosblüte in mehr als 60 Metern Höhe.

Die Tempelwände zieren an die zweitausend Göttinnen („devatas“) und unzählige halbgöttlichen Tänzerinnen („apsaras“). Ihre graziöse Gestalt und ihr geheimnisvolles Lächeln ziehen Besucher bis heute in ihren Bann. Die Seitenwände der untersten Galerie ziert über 800 Meter ein Flachrelief, das bedeutende Episoden aus der Geschichte der Dynastie erzählt, aus dem „Mahabarata“ und „Ramyana“, den bekannten Hindu–Epen.

Angesichts der Fülle, die es zu sehen gibt, zieht es uns öfter hierher und so haben wir die Chance, den Angor Wat zu verschiedenen Tageszeiten zu sehen. Die unterschiedliche Sonnenbestrahlung taucht das kunstvolle Bauwerk in die verschiedensten Farben. Ist man zudem bereit, auch beim Morgengrauen zum Tempel zu kommen, erscheinen die Türme von Angkor Wat wie Scherenschnitte vor dem verblassenden Nachthimmel. Selbst bei unserer Heimreise werden wir am Flughafen noch einmal an die märchenhaften Tempelanlagen von Angkor Wat erinnert. Trägt doch die heutige Nationalfahne von Kambodscha in ihrer Mitte die fünf Türme des Weltkulturerbes.


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